70 Jahre Wiedergründung der SPD in Aschaffenburg

Am 7. Oktober 2015 gedachte der SPD-Stadtverband Aschaffenburg der Wiedergründung der SPD kurz nach Kriegsende vor 70 Jahren. Rudi Stock, der Ehrenvorsitzende des Stadtverbands, gedachte am Grab seines Vaters Jean Stock dieser Wiedergründung.

Jean Stock war nicht nur an der Wiedergründung der SPD vor Ort beteiligt, sondern auch der erste Oberbürgermeister Aschaffenburgs nach dem Ende der NS-Diktatur, Mitglied des Parlamentarischen Rats und langjähriges Mitglied des Bayerischen Landtages.

Die Rede von Rudi Stock im Wortlaut:

Der 28. Juni war für mich ein ganz besonderer Tag. Nach 4 ½ Jahren Arbeitsdient- und Militäreinsatz und viermonatigem Lazarettaufenthalt in Olpe in Westfalen konnte ich einigermaßen gesund die Heimreise nach Aschaffenburg antreten. Die Heimreise deshalb, weil wir im Lazarett nicht als Kriegsgefangene, sondern als Internierte behandelt wurden. Jeder konnte, wenn er sich gesund genug fühlte, auf eigenes Risiko – und das war damals sehr groß – nach Hause gehen. In Olpe hatte ich schon erfahren, dass mein Vater von den Amerikanern als Oberbürgermeister von Aschaffenburg und Landrat von Aschaffenburg und Alzenau eingesetzt worden war.

Die Ankunft in mein geliebtes Aschaffenburg war schrecklich. Die Straßen lagen noch voller Schutt und die Häuser waren zum größten Teil zerstört. Ein gespenstischer Anblick.

Es packte mich – im Herzen getroffen – noch einmal die Wut auf diejenigen, die für dieses Elend verantwortlich waren. Aber diese Verbrecher haben ja in Nürnberg ihre gerechte Strafe erhalten oder haben sich selbst umgebracht.

Wie es damals in Aschaffenburg aussah, geht aus einer Rede hervor, die der damalige 2. Bürgermeister Dr. Hans Reinthaler bei der Verabschiedung meines Vaters als Oberbürgermeister von Aschaffenburg hielt, als dieser das Amt des Regierungspräsidenten von Unterfranken in Würzburg antrat. Ich zitiere auszugsweise:

„Aschaffenburg war in den Morgenstunden des 3. April 1945 als erste bayerische Stadt durch die amerikanischen Truppen besetzt worden. 20 Bombenangriffe, darunter mindestens fünf Großangriffe, und eine achttägige Belagerung und Beschießung hatte das Gesicht der Stadt geändert. Von 4500 Häusern waren 990 total und 675 schwer zerstört. Der Rest war mittel oder leicht beschädigt. Das Schloss, dessen Räume seit 20 Jahren als Rathaus benützt wurden, war niedergebrannt. Die Straßen waren verschüttet und kaum passierbar. Die einst führenden Männer waren geflohen und die Verwaltung aufgelöst. Das Bahnnetz war ebenso zerschlagen, wie das übrige Transportsystem. Wasser, Licht und Nachrichtenmittel waren ausgefallen. Zu den schon besetzten Gebieten des Westens gab es noch keine Verbindung, aus der Aschaffenburg einen Nachschub an lebenswichtigen Gütern erwarten konnte, und zu den noch nicht besetzten, noch umkämpften Reichsgebieten war die Verbindung abgeschnitten. In diesen schweren Stunden der Stadt berief der Kommandeur der amerikanischen Militärregierung den Mann zum Oberbürgermeister, der aufgrund seiner politischen Vergangenheit und seiner Haltung in den zwölf Jahren der Diktatur die Gewähr für demokratisches Denken und Leistung bot. Jean Stock übernahm eine von Bomben und Granaten zerschmetterte Stadt, in der kaum ein Haus mehr unberührt stand, deren Verwaltung aufgelöst und deren Bewohner vor dem Schrecken der Belagerung geflohen waren. Einbahn, Post, Zeitung, Licht, Gas, Wasser und alle Dinge, die das Leben in einer modernen Stadt erst möglich machen, gab es nicht mehr.“

Soweit Dr. Reinthaler. Und in dieser grauenvollen Zeit machten sich die früheren Parteien auf den Weg, demokratische Verhältnisse nach der Zeit der Nazidiktatur herzustellen. So auch die Sozialdemokratische Partei.

Am 7. Oktober war es dann soweit. Nach mehreren Zusammenkünften, die als Gewerkschaftssitzungen deklariert waren (Versammlungen und sonstige Zusammenkünfte waren von den Amerikanern verboten), riefen unter anderem Jean Stock, Bernhard Junker, Konrad Pohl, Willi Retzlaff und Otto Blöcher zur Wiedergründung der SPD auf. Sie fand am Sonntag, den 7. Oktober im Cafe Central statt (das einzige Lokal, was noch einigermaßen benutzbar war). Als 24-jähriger war ich auch dabei.

Hier und in mehreren Fahrten mit meinem Vater in die Umlandgemeinden erlebte ich, wie sich ältere und alte Sozialdemokraten um den Hals fielen und vor Freude weinten, weil sie den schrecklichen Krieg und den Nazi-Terror überlebt hatten. Da spürte ich, dass für diese Menschen die SPD nicht nur eine Partei zur Durchsetzung bestimmter Ziele ist, sondern eine politische Heimat bedeutete. Diese unmittelbaren Erlebnisse haben mich sehr beeindruckt und geprägt.

Ich bin natürlich sofort in die Partei eingetreten und bin sehr stolz, ihr heute 70 Jahre lang anzugehören. Und ich freue mich, dass ich für meine Partei einige ehrenamtliche Dienste leisten konnte. Übrigens: mein Parteibuch von damals trägt noch die Handschrift von Bernhard Junker, dem Mann, der sich nicht zu schade war, mit schon ergrautem Haar sich aufs Motorrad zu setzen, um die Organisation im Umkreis aufzubauen. Zum Vorsitzenden wurde damals mein Vater gewählt, der später von Bernhard Junker abgelöst wurde.

Die CSU hatte es mit ihrer Neugründung etwas schwerer, weil ihre Vorgängerin, die Bayerische Volkspartei, sehr „angebraunt“ war. Diese wollte die Nazi-Partei im Kampf gegen die SPD benutzen nach dem Motto: „Die Nationalsozialisten sind der Pfahl im Fleische der Sozialdemokraten!“ So drückte sich ein Landtagsabgeordneter der BVP damals aus.

Wenn ich jetzt die letzten Jahrzehnte Revue passieren lasse und alle Ereignisse überdenke, dann komme ich zu dem Schluss, dass ein 8. Mai 1945 und ein 7. Oktober 1945 nicht notwendig gewesen wären, wenn die Menschen bei den Wahlen die immer wieder proklamierten Zielsetzungen und Warnungen der SPD befolgt hätten: „Frieden, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“ und „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg“!! Den Menschen wäre viel Not und Elend weltweit erspart geblieben.

Aber schauen wir hoffnungsvoll in die Zukunft und unternehmen alles, damit sich ein 30. Januar 1933 niemals wiederholen kann.